Ist Twitter noch zeitgemäß für politische Kommunikation?
“Wir müssen nun das Versprechen Amerikas erfüllen, indem wir Gott vertrauen, unsere Vision vereinen und unsere Zukunft errichten. Ich kandidiere als Präsident der Vereinigten Staaten.”
Geschichtsträchtige Worte, deren AbsenderIn sicherlich ein schillernder Stern am Politikhimmel der USA sein muss. Denn wer sonst würde sich zu so einem Statement hinreißen lassen?
Kanye West.
Genau, der Kanye West, der hauptberuflich rappt, mit antisemitischen und rassistischen Aussagen auffällt und übrigens unter einer bipolaren Störung leidet. Ärztlich bestätigt.
Elon Musk sichert ihm in einem Antwort-Tweet vollste Unterstützung zu.
Neue Medien können erschaffen – und erodieren
US-amerikanische Politik lief seit jeher anders als hierzulande. Sie ist nicht nur durch das 2-Parteiensystem deutlich personengebundener, sondern auch kreativer: Wer neue Medien besser für sich nutzen kann, ist zumeist im Vorteil. Das hat schon Barack Obama bewiesen, der 2007 mit einer damals beispiellosen Online- und E-Mail-Kampagne die Demokraten elektrisiert und “Change” zum Slogan eines Jahrzehnts machte.
Donald Trump ist etwas Ähnliches mit Twitter gelungen. Sein Handy wurde das direkte Sprachrohr zur Welt. Trump schien 2016 kein Wahlkampfteam zu brauchen, denn er verstand die Dynamik sozialer Netzwerke wie kein anderer. Polarisierende Aussagen emotionalisierten in beide Richtungen, die Kontroverse sorgte für entsprechende Reichweite. Dieses Spiel lässt sich aber nicht ewig fortführen: Immer müssen neue Grenzen gebrochen werden, der Ton wird zunehmend schriller.
Politische Kommunikation driftet in eine Glaubwürdigkeitskrise
Twitter ist ein Kurznachrichtendienst. Auf beiden Seiten des Atlantiks tummeln sich VertreterInnen aus Politik und Medien: Twitter-Trends fließen nicht selten in die Schlagzeilen etablierter Sender und Zeitungen. Ist das noch zeitgemäß für ein Netzwerk, dessen Diskussionskultur zunehmend einer kruden Zirkusshow gleicht?
Politische Kommunikation driftet in eine Glaubwürdigkeitskrise: Die Mechanismen sozialer Netzwerke begünstigen polarisierende Aussagen, die von den sich dort versammelten MedienvertreterInnen vielfach verstärkt werden. Von POLITICO über die New York Times bis zum ZDF spekuliert die Welt gerade darüber, wie ernst Kanye West’s Kandidatur zu nehmen sei.
Dass dieser Form von Boulevardthemen solch immenser Nachrichtenwert zugerechnet wird, ist Folge einer Überstilisierung von Tweets, die durch die extreme Zeichenlimitierung – 280 Zeichen maximal – von vornherein kaum Gehalt transportieren können. Im Umkehrschluss nehmen WählerInnen die Politik zunehmend als Zirkus wahr. Die Ära Trump hat diesen Trend ad absurdum getrieben.
Wie kommen wir aus dieser Misere wieder heraus?
Mut zum Live-Video
Manche Trends lassen sich nicht mehr umkehren, weil sie zu tief im Bewusstsein der NutzerInnen verankert sind. Dazu gehört, dass PolitikerInnen nicht mehr den Umweg über etablierte Medien nehmen, um mit der Öffentlichkeit zu reden. Doch gerade Textnachrichten bergen ein extremes Risiko, fehlinterpretiert zu werden. 280 Zeichen – das ist nicht einmal doppelt so viel wie eine SMS.
Im Kampf um Aufmerksamkeit haben Player aus Politik und Öffentlichkeit teilweise vergessen, welchen Stellenwert Glaubwürdigkeit hat. Dabei bieten soziale Netzwerke heute perfekte Möglichkeiten, auch komplexe Themen hinreichend zu erklären, dabei nahe am Menschen zu sein und gleichzeitig enorme Reichweiten zu erzielen: mit Live-Videos.
Eine Faustregel für soziale Netzwerke lautet: Je länger NutzerInnen auf deiner Plattform verweilen, desto wertvoller sind sie. Gerade deshalb pushen u.a. Instagram, Facebook, YouTube und LinkedIn massiv ihre Live-Formate. Wer live geht, dessen NutzerInnen werden prominent benachrichtigt. Man kann beim Live-Zuschauen nicht vor- und zurückspulen.
Live-Formate sind auf ihre Art auch intim: Nur wer einschaltet, kann auch Fragen stellen, die dann direkt von den Sendenden beantwortet werden können. So nah wie bei einem Live-Video können WählerInnen ihren gewählten VertreterInnen kaum sein. Die Antworten entstehen im Moment, sind maßgeschneidert und unterliegen keinem Skript. Das kostet zu Anfang einiges an Überwindung, schafft aber genau das, was sich Politikschaffende wünschen: Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Einen Akzent kann man nicht herausschneiden, Versprecher ebenfalls nicht – genau das macht menschlich.
Ein gutes Beispiel gab die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern, als sie zu Anfang der Corona-Krise im Facebook-Livestream allen WählerInnen geduldig ihre Fragen beantwortete. Die Angst hatte ein Ventil in einer Politikerin, die sich für ihre BürgerInnen Zeit nahm.
Fazit: Mehr Lang-Format – weniger Polarisierung
Wir leben im Zeitalter der Politikverdrossenheit. Gerade junge Menschen fühlen sich durch etablierte Parteien nicht mehr abgeholt. Wem soll man es verübeln, wenn sich die einen im Elfenbeinturm verschanzen und die anderen Social Media zur Manege für ihr eigenes Ego umfunktionieren?
Social Media gehört zum Leben der BürgerInnen dazu. Die Politik sollte gleichziehen und UserInnen in den sozialen Netzwerken die Zeit entgegenbringen, die sie verdienen – echt, menschlich, im Dialog.