Die Wirtschaft nach der Krise – MOBILITY
Kalender auf – Klick auf den Link – Ladebildschirm – viele Kacheln mit kleinen Gesichtern. Kommt dir das bekannt vor?
Von Meetings über Sportkurse bis zum Besuch der Verwandtschaft: Video-Calls sind die Art, wie wir uns seit Monaten treffen – und weiter treffen werden, so zumindest die Meinung des Finanzmarktes. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Zoom, ein Videokonferenz-Tool ohne revolutionären Service, mit knapp 80 Milliarden, zwischenzeitlich sogar 136 Milliarden Dollar, bewertet wird? Zum Vergleich: Der Pharmakonzern Bayer ist aktuell ca. 51 Milliarden wert und macht derweil das 70-Fache an Umsatz (Bayer: 43,54 Milliarden; Zoom: 622 Millionen).
Mit Corona mussten wir im Schnelldurchlauf lernen, dass die meisten alltäglichen Termine es nicht erfordern, das Haus zu verlassen. Das ist eine Zäsur in der Entwicklung der letzten Jahre – denn individuelle Mobilität war ein unaufhaltsamer Megatrend. Welche Auswirkungen hat es auf die Innenstädte und MobilitätsdienstleisterInnen, wenn unsere Wege auch weiterhin nur vom Schreibtisch zum Kühlschrank führen?
Die Zukunft des Büros
Als Corona über Deutschland hereinbrach, konnten wir bei Projecter unsere Laptops einpacken, nach Hause gehen – und weiter arbeiten. Bürotätigkeiten passieren am Computer und obwohl in der Vergangenheit große Skepsis herrschte, ob Teams auch daheim effektiv zusammenarbeiten können, war das Pandemie-Jahr für viele Unternehmen ein Crashkurs in Sachen digitales Projektmanagement. Dass sich diese Veränderung manifestieren könnte, wurde mit einem Blick über den Atlantik schnell klar: Google kündigte bereits früh an, seine Mitarbeitenden erst bis Juli 2020, dann sogar bis September 2020 im Homeoffice arbeiten zu lassen.
Aus Sicht der Unternehmen ein smarter Move, mit dem sich ordentlich Mietkosten sparen lassen. Aber es gibt immer zwei Seiten: In den sieben größten deutschen Metropolen wurden laut Handelsblatt im Q3/20 37% weniger Büroflächen als im Vorjahreszeitraum vermietet. Die Branche schwankt zwischen Panik und Zuversicht: Schließlich seien Innenstadtlagen weiterhin attraktiv und ohnehin sei der vermietbare Raum weiterhin knapp.
Es braucht allerdings keine hellseherischen Fähigkeiten, um zu begreifen, dass eine strauchelnde Wirtschaft auch in den Post-Corona-Jahren jedes Investment, gerade monatliche Fixkosten, doppelt und dreifach überdenken wird. Denn Standort-Unabhängigkeit bringt auch Flexibilität für Mitarbeitende. Ein Beispiel gibt die Software-Schmiede Basecamp, deren Belegschaft sich heute schon über 32 Städte auf der ganzen Welt verteilt – und das bei gerade einmal 59 Angestellten.
Selbstbestimmtes Arbeiten in digitaler Kollaboration ermöglicht es Unternehmen auch, an der Sharing Economy teilzunehmen und Bürokapazitäten flexibel zu buchen. Wäre WeWork nicht 2019 auf spektakuläre Weise implodiert, würde Ex-CEO Adam Neumann wohl euphorisch auf die Zukunft blicken. Ungeachtet dessen wird das Konzept des CoWorking-Spaces nach der Pandemie gefragter denn je sein. Ein heißer Kandidat aus der Bundesrepublik heißt DesignOffices.
Erweitern ließe sich die Büro-Erfahrung noch über Sococo: Der Anbieter für Virtual Workspaces erschafft eine digitale Welt, in der man sich mit einem Avatar zwischen Räumen bewegen und so mit seinen KollegInnen in Kontakt treten kann. Das gilt übrigens nicht nur für Arbeitswelten, sondern auch beispielsweise für Messen. Der renommierte Chaos Communication Congress machte es Ende 2020 mit einer selbst gebauten Online-Welt vor.
Wie geht es weiter für Shared Mobility?
Während des März-Lockdowns kam die Welt zum Erliegen – Und die Befürchtung lag nahe, dass auch MobilitätsanbieterInnen nie wieder aus der Schockstarre erwachen würden. Besonders die E-Scooter-Branche fürchtete sich vorm Damoklesschwert, war sie wegen massiver Konkurrenz und hoher Verschuldung sowieso schon am Rudern.
Doch es kam anders. Mitte des letzten Jahres zogen viele AnbieterInnen ein positives Fazit. Der deutsche E-Scooter-Anbieter Tier wurde im Juni sogar profitabel. Beim Carsharing wurde die Verdrossenheit auch durch leichten Optimismus abgelöst: Zum Beispiel wird die VW-Tochter WeShare in der Corona-Krise mehr genutzt als zuvor.
Die Begründung liegt auf der Hand: Mobilität ist weiterhin eine Form von Freiheit, die KonsumentInnen nicht missen wollen. Aber die berechtigte Angst vor Ansteckungen lässt sie die Öffentlichen Verkehrsmittel meiden, die im Übrigen zu den unbestrittenen Verlierern der Krise gehören. In New York befürchtet man bis zu 40% weniger Einnahmen durch Ticketverkäufe von Bussen, Metro & Co – ein Horrorszenario, das den Fortbestand des öffentlichen Verkehrsnetzes in Frage stellt.
Man könnte nun meinen, der Automarkt zählt zu den größten GewinnerInnen während der Pandemie – Denn was ist Corona-sicherer als das eigene Vehikel? Doch die Zahlen zeichnen ein anderes Bild: Bundesweit wurden 2020 ein Fünftel weniger Autos zugelassen – so wenig wie seit zehn Jahren nicht mehr. Ein eigenes Auto scheint für viele Deutsche, die einer unsicheren Beschäftigungssituation entgegenblicken, kein stemmbares Investment. Bemerkenswert ist, dass Fiat mit einem Umsatzplus überraschen kann. Das liegt vor allem an der Wohnmobil-Sparte, die 2020 stark zugelegt hat.
Fazit: Es braucht ein neues Konzept für die Innenstädte
Als ich nach dem Abitur in Rio de Janeiro war, hat mich das dortige Stadtzentrum sehr verwundert. Es war vor allem ein Ort für PendlerInnen: Morgens verstopften die Autos alle großen Highways, abends wiederholte sich das Spiel, nur in die andere Richtung. Die von Hochhäusern gesäumte Innenstadt war ein Ort für das Arbeitsvolk, gelebt wurde in den Außenbezirken. Nach Feierabend waren die Straßen leer.
So sieht es in vielen Metropolen aus. Corona gibt uns die historisch einmalige Chance, dieser Entwicklung entgegenzutreten. Denn wenn das feste Office an Bedeutung verliert und Mobilität mehr als Service denn als eine Sache gesehen wird, die man besitzen muss, bieten sich enorme Möglichkeiten, ganze Stadtzentren neu zu formen.
Das Zukunftsinstitut spricht von einer urbanen Rekonfiguration: So plant die Bürgermeisterin von Paris die “15-Minuten-Stadt”, in der alle notwendigen Wege des Alltags – auch die Arbeit – nicht mehr als 15 Minuten Radweg von der eigenen Haustür entfernt sein sollen. In Portland spricht man von 20 Minuten. Barcelona arbeitet an sogenannten “Superblocks” ohne Autos, die Menschen innerhalb ihres Viertels näher zusammen bringen sollen.
Ich finde: Wir sollten diese Chance nutzen. Nicht nur für das Klima und den bezahlbaren Wohnraum – sondern auch für die wohl wichtigste Ressource: unsere Zeit. 2019 mussten 19,3 Millionen Deutsche zu ihrem Arbeitsort pendeln – 3,4 Millionen mussten gar ihr Bundesland dafür verlassen. Stellen wir uns vor, wie viel Zeit und Lebensqualität wir dazugewinnen, wenn wir neu überdenken, welche Reise wirklich notwendig ist und welche sich auch per Klick auf einen Link erledigen lassen.
Die Wirtschaft nach der Krise – Kapitel 1-3
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